Auf falscher Fährte.

Novellette von Ralph von Rawitz
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 26.04.1903,
in: „Indiana Tribüne” vom 27.09.1904


Als das Eskadronsexerzieren vorüber war und der Rittmeister seine Offiziere entlassen hatte, ging Graf Hans Adlerfeld zunächst in den Stall, um nach seinen Gäulen zu sehen, dann aber spornstreichs nach Hause.

„Nanu, Adlerfeld, Sie kommen heute nicht in's Kasino zum Frühschoppen?” rief ihm Leuwant v. Heyde nach.

„Nein, Verehrter, bin noch etwas müde von dem gestrigen Abend; will mich etwas auf's Ohr legen.”

„Dann also Abends bei Tisch?”

„Selbstverständlich, Heyde! Morgen!”

Ein fröhliches Liedchen trällernd, schritt er durch die engen Gassen der kleinen Garnison, anscheinend verHnügt und sorgenlos; die heitere Miene verschwand aber sofort, als er in den Garten trat, der seine kleine Villa umgab, und wo er sich unbeobachtet wußte. In der Thür des Hauses trat ihm sein Bursche entgegen.

„Briefe angekommen, Christoph?”

„Befehl, Herr Graf, zwei!”

„Gut! Komm rein. Will mich umziehen!”

Der Toilettenwechsel ging schnell und mit militärischer Exaktheit vor sich: Ulanka und hohe Stiefel verschwanden und machten einer eleganien Sammetjoppe und niedrigen Lederschuhen Platz. Der Graf rückte ein tiefes Fauteuil in die Glasveranda, von dem man die ganze Fliederpracht des frühlingsfrischen Gartens überschauen konnte, braute aus einer Flasche Mosel, Selterwasser und Zitrone ein kühles Getränk und griff dann nach den beiden Briefen, die Christoph auf silbernem Tablett überreichte.

„Gut. Kannst gehen. Und um 5 den Tischanzug!”

„Befehlen, Herr Graf.” Und leise verschwand er.

„Nun, wollen wir mal sehen, von wem! Aha, ein Geschäftsbrief! Da steht ja die Firma drauf! Natürlich vom Sattler! Mahnbrief! Brauch' ich gar nicht zu öffnen! Warum sich ärgern?! Kann den Kerl ja doch nicht bezahlen. Also der andere! Was — das ist Mamas Handschrift? Und der Poststempel Guditten?” Er wog das Schreiben einige Zeit in der Hand, ohne da rothe Siegel, das scharf ausgeprägt das Familienwappen zeigte, zu erbrechen.

„Was kann das sein? So außer der Zeit! Sonst schreibt Mama doch nur am Monats-Ersten!”

Endlich entschloß er sich und öffnete das elegante, längliche Couvert, aus dem eine engbeschriebene Karte herausfiel.

Mein lieber Sohn,

wir pflegen sonst nur einmal im Monat Briefe zu wechseln und kannst Dir daher wohl denken, daß mich dieses Mal ein besonderer Anlaß zu einer außeretatsmäßigen Epistel bewegt. Ich habe mir kürzlich von unserem alten Freunde, dem Bankier Heilmann, eine genaue Aufstellung über unser Vermögen machen lassen und mit Schrecken bemerkt, daß es stark zusammengeschmolzen ist. Ich, mein Sohn, brauche nur wenig und Dein Bruder gibt natürlich auch so gut wie nichts aus. Die Verminderung unserer Gelder fällt allein auf Dein Konto. Mein lieber Hans, ein Graf Adlerfeld von den Prinz Eugen-Ulanen muß standesgemäß auftreten, das weiß ich wohl. Unter „standesgemäß” verstehe ich aber vornehm ohne Verschwendung. Du hast es ein wenig arg getrieben, und das kann nicht so weiter gehen, um so weniger, als Georg im Herbst, nach bestandenem Examen, auch in die Armee tritt und gleiche Unterstützung, wie Du, von mir zu beanspruchen hat.

Ich will Dir, mein lieber Sohn, aber nicht nur mit einer Warnung kommen, sondern auch mit einem Fingerzeig, wie Du Deine Existenz zu gestalten vermagst. Du bist 28 und mukt Dich unter den Töchtern des Landes umsehen. Nun gibt es viele Madchen, die reich, viele, die vornehm, viele, die schön sind. Aber eine Vereinigung dieser Eigenschaften, auf die Du, wie ich Dich kenne, Wert legen dürftest, ist recht selten. Nichtsdestoweniger bin ich imstande, Dir eine Dame anzuführen, welche dem Ideal nahe kommt. Es ist eme Baronin v. Berken, geborene Freiin v. Kopp-Luckau. Sie ist höchstens 22 oder 23, der Mann war Oberhofmarschall in einem .mitteldeutschen Fürstentum und ist nach ganz kurzer Ehe (ein Vierteljahr, höre ich) gestorben. Die Baronin ist viel gereist, sehr klug und liebenswürdig und hat sich in unserer Nachbarschaft angekauft. (Brackenfelde. das unter Brüdern 1½ Million wert ist!!) — Wenn Du plötzlich hier angereist kämest, so würde das auffallen. Ich erfahre aber soeben, daß die Baronin Mitte Juni nach Saßnitz geht, wo sie eine Villa besitzt. Vieleicht kannst Du Deinen Urlaub auch so einrichten, daß Du ihn in dem Ostseebade zubringst? Es dürfte dann Dir, der bei den Frauen solches Glück hat (leider! muß ich in mancher Hinicht sagen!), kaum schwer fallen, Herz und Hand der Dame in kurzer Attacke zu erobern. Ueberlege Dir die Gechichte. mein lieber Junge, Compromisse müssen wir im Leben alle einmal schließen. Es kommt nur darauf an, den richtigsten herauszufinden. —

Um mit etwas Erfreulichem zu schließen: Das Getreide steht gut, sogar unten am Erlenbruch. — Ich habe zwei Ackerpferde preiswert gekauft. — Die braune „Norma” hat gefohlt.

Nun grüße und küsse ich Dich als Deine treue Mutter
Natalie v. A.
Guditten, 11. Juni.

„Das fehlte grade noch!” Der Offizier legte den Brief mit einer entschiedenen Handbewegung auf einen Tisch und sah mit finsterem Gesicht in den Garten hinaus. Nach einer kleinen Weile jedoch nahm er die Karte noch einmal zur Hand und überflog die letzte Hälfte des Schreibens abermals.

„Mama hat aber nicht Unrecht! Es geht wirklich nicht so weiter! Gestern Abend wieder 1100 bei dem harmlosen Macao! Und bei Schuster und Schneider, Sattler und Tapezierer, wer weiß wie viel! — Schließlich bin ich das Junggesellenleben auch satt. Und wenn so eine reizende Frau neben Mir säße und ich aus diesem Labyrinth der Sorge heraus wäre — Caramba — dann finge wahrhaftig ein neues Leben an! Wann fährt sie?, Mitte Juni? Hm! Versuchen könnte man es ja! Schlimmstenfalls habe ich eine Erinnerung mehr im Katalog meiner Herzensdamen.”

Er schluq mit emem Elfenbeinstäbchen das zierliche Bronze-Tamtam, das auf dem Tische stand; Christoph erschien in der Tür.

„Meldeanzug!”

„Befehlen, Herr Graf!”

Eine Stunde später hatte Adlerfeld einen dreiwöchentlichen Urlaub, vom 15. Juni bis 8. Juli, nach der Ostsee in der Tasche.

*           *           *

Eines schönen Nachmittags bestieg Graf Adlerfeld, jetzt in tadellosem Reisezivil, in Swinemünde die „Freya”, die den Verkehr zwischen Stettin und Rügen vermittelte. Langsam dampfte das stattliche Schiff am Leuchlturm vorbei und zu den Molen hinaus in die See. Nach kurzer Fahrt wurde Heringsdorf. angelaufen, auf dessen weit in's Meer hinausgeschobenem Vadesteg sich ein elegantes Publikum bewegte. Es machte dem Grafen viel Vergnügen, die Leutchen zu mustern, die fröhlich scherzend am Geländer lehnten und ihrerseits die Passagiere der „Freya” einer Kritik unterzogen. Auch eine kleine Zahl neuer Passagiere kam hier an Bord. Nachdem alles geordnet war, griff der Kapitän an die goldbordierte Mütze, die Schiffskapelle spielte: „Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus,” und schnaubend setzte sich der Dampfer wieder in Bewegung.

Unter den Neuangekommenen befand sich ein schlankes, blondes Mädchen, das die Aufmerksamkeit des jungen Offiziers erregte. Sie war einfach, aber geschmackvoll gekleidet und befand' sich in Gesellschaft einer älteren Dame. Ohne sich vorzustellen, mit der Freiheit, die nun einmal im Reiseleben gestattet ist, knüpfte Adlersfeld ein Gespräch an. Sie entgegnete ohne Befangenheit oder Ziererei und erzählte, daß sie in Crampaß, einem kleinen Oertchen unfern von Saßnitz, wohne.

„Und ich gehe nach Saßnitz selbst! Aber vielleicht fügt es der Zufall, daß wir uns am Strande begegnen?!”

Als die Damen auf die andere Seite des Schiffes gegangen waren, um ein vorüberfahrendes Segelboot zu beobachten, wandte Adlerfeld sich an einen Schiffssteward.

„Sagen Sie mal, wissen Sie vielleicht, wer die Herrschaften sind, die alte und die junge Dame? Sie scheinen ja öfters diese Route zu fahren.”

„Die Alte ist eine Engländerin, soviel ich weiß, und die Junge ist wohl ihr Hausfräulein oder so was. So zur Stütze, lieber Herr! — Vielleicht ein Glas Bier gefällig?”

„Danke! Aber hier haben Sie einen Märker.”

Der Steward zog die Mütze und fühlte sich gedrungen, ein Uebriges zu tun: E„s wohnen nämlich eine ganze Schar solcher Leute hier! Und fast alle haben sie 'ne Gouvernante oder Bonne mit”

„Armee Ding,” dachte Adlerfeld, „so hübsch und muß ihre Jugend mit der alten Briten-Mama vertrauern!! Hoffentlich finde ich hin und wieder Zeit, neben der Baronin auch der Gouvernante zu huldigen.” — —

In Saßnitz angekommen, nahm der Graf im Kurhotel Wohnung (selbsverständlich eine Treppe vorn heraus nach der See) und erbat sich sofort die Badeliste. Da stand es: Villa Seefriede: Baronin v. Berken, geb. Freiin Kopp-Luckau nebst Bedienung.

„Aha! das Vögelchen haben wir!”

Am nächsten Tag suchte er sich an die Villa heranzupürschen; aber das war nicht ganz leicht, das zierliche Häuschen, im Tiroler Stil, lag inmitten eines großen, dichtbelaubten Gartens, den er nicht gut betreten konnte.

Was nun tun? Im Hotel mochte er nicht fragen, Bekannte hatte er keine am Ort; daß er zufällig am Strande ihre Bekanntschaft machen sollte, war auch nicht wahrscheinlich. So blieb, als letzter Rettungsanker ,nur der alte joviale Sanitätsrath Wogebühl, der Badearzt. Aber der sonst allwissende Aeskulap versagte.

„Bedaure, Herr Graf! Eine junge lebenslustige Witwe! Was hätte da der Arzt zu schaffen! Uebrigens glaube ich garnicht mal, daß die Dame zur Zeit hier ist. — Sie soll sich viel in Heringsdorf bei einer Freundin, der Gräfin Neuhoff, aufhalten.”

„Aber die Badeliste!”

„Beweist nichts, oder doch nur, daß die Baronin ihr hiesiges Vesitztum besucht hat. Ist aber jetzt vielleicht, wo der Himmel blau!”

„Mamas Pläne werden wohl zu Wasser werden,” dachte Adlerfeld nach dieser Auskunft; nun, „deshalb wollen wir nicht den Kopf hängen lassen und die Gouvernante aufsuchen.”

Am selben Abend bummelte er am Strande nach Crampaß und schon halben Weges entdeckte er seine Schöne, die aus einem breiten Stein saß und srig skizzirte.

„Guten Abend, mein Fräulein, darf ich mir schmeicheln, von Ihnen wiedererkannt zu werden?”

„Natürlich! Wir sind ja vor drei Tagen auf der „Freya” zusammen hierher gekommen.”

„Mein Name ist Adlerfeld.”

„Sehr angenehm.”

„Sie sind Malerin, wie ich sehe?”

„Nur nebenher, mehr guter Wille als Begabung.”

„Was macht Ihr schönes Crampaß?”

„Danke! Und Saßnitz? Sie sind ja wohl zum erstenmal dort? Hat es Ihren Beifall?”

„Die Natur ist ja herrlich. Aber wenn man keinen nahen Bekannten da hat — —!”

„Das ist doch gerade schön! Es ist doch schrecklich, ewig mit anderen Leuten zu tun zu haben.”

„Und das müssen Sie wohl, liebes Fräulein?”Leider nur zu oft! Aber zuweilen mache ich mich frei und flüchte in die Einsamkeit, wie z. B. heute hierher!”

„Sie kennen wohl die qanze Badegesellschaft?”

„Die ganze — nein, aber viele der Herrschaften.”

„Da las ich gestern in der Badeliste einen Baron Kießling?”

„Der Herr ist Kammerjunker, Sie können ihn leicht erkennen; er trägt Monokle am schwarzen breiten Bande.”

„Auch eine Baronin Berken soll in Saßnitz sein —!”

„Ja — eine Witwe, ziemlich verblüht und häßlich!”

„Ich habe das Gegentheil sagen hören.”

„Gott bewahre! Wer hat Ihnen dies Märchen erzählt? Ueberdies ein gräßlicher Charakter: rechthaberisch, geizig, die geborene Xantippe”

„Ach was!”

„Und hat ihren Mann in ganz kurzer Zeit unter die Erde gebracht. Das sagt doch wohl genug!”

„Aber nein!”

„Wirklich!. Uebrigens ist sie auch menschenscheu. Haben Sie sie etwa schon gesehen?”

„Allerdings nicht!”

„Sehen Sie wohl! Ja ja, ich kenne sie!”

„Da wäre ich ja in letzter Stunde noch einer Gefahr entgangen,” dachte Adlerfeld. „Wer weiß, ob mich die Millionen nicht trotz ihres Aeußeren kaptiviert hätten! Und da hätte ich mir einen solchen Charakter an den Hals geheiratet! Was Mama auch nur geschrieben hat! Natürlich nur nach Hörensagen!”

Er lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema und sie plauderten fort, bis das junge Mädchen sich erhob!

„Ich muß nun heim!”

„Treffen wir uns wieder?”

„Wenn ich Ihnen nicht zu langweilig bin?”

„Wie können Sie so etwas sagen. Ich freue mich riesig! Ganz im Ernst! Morgen Abend?”

„Gut, morgen Abend!”

*           *           *

Drei Wochen waren in's Land gezogen, und jeder Tag war in der qleichen Weise vergangen. Morgens batte Adlerfeld gebadet, gefischt, Ausflüge nach Stubbenkammer und und anderen Punkten gemacht, nachmittags und abends aber in dem versteckten, grünen Winkelchen, mit ihr am Strande gesessen. Um die Baronin kümmerte er sich mcht mehr, seitdem ein Diener am Eingang der Villa auf seine direkte Frage entgegnet hatte, die Dame sei nicht mehr in Saßnitz.

So war der letzte Abend herangekommen, morgen mußte er heim in die Garnison. Ihm wurde das Herz schwer, als er seine blonde Nachbarin ansah und als er dachte: „Morgen sitzt sie allein hier, morgen bin ich weit! Werde ich sie je wiedersehen?”

Auch sie war still und gedankenvoll.

Endlich nahm er das Wort und begann von Gleichgültigem zu plaudern: „Das Publikum in Saßnitz wechselt doch fortwährend, jeden Tag sehe ich neue Gesichter.”

„Natürlich! Für viele ist Rügen nur die Durchgangsstation nach dem Norden.”

„Wir sprachen einmal — ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern, Fräuein, von einer Baronin Berken.”

„Gewiß, die Xantippe!”

„Ja, Sanitätsrath Wogebühl hat mir dieser Tage erzählt, warum sie in diesem Jahre nicht in Saßnitz wohnt: Die Villa wird im Innern restauriert. und ist daher zur Zeit nicht benutzbar. Uebrigens ist der Doktor durchaus nicht Ihrer Ansicht, Fräulein! Er behauptet, Frau v. Berken sei noch sehr hübsch.”

„Das sind Ansichtssachen! Jnteressieren Sie sich fü die Dame?”

„Nicht im mindesten, — nur weil Verwandte von mir sie kennen!”

„So! Schade, daß Sie sie nicht kennen gelernt haben.”

„Bedaure das nach Ihrer Schilderung durchaus nicht! Ueberdies, nehme ich nicht eine andere schöne Erinnerung mit?”

„Doch mcht etwa an mich?”

„Und wenn es doch so wäre?”

„Sie scherzen! Diese Abendstunden werden Sie bald vergessen haben.”

Er wollte etwas erwidern, aber die Stimme gehorchte ihm nicht recht.

„Sie fahren also morgen?”

„Ja — ich muß! Ich muß, leider, leider!”

„Wir gehen auch — Ende Juli — fort.”

„Und wir sollen uns nie wiedersehen?”

„Schwerlich!”

„Ich habe in diesen drei Wochen niemals nach Ihrer Heimat gefragt, Fräulein! Wollen Sie mir jetzt spurlos in die weite Welt entschwinden?”

„Vielleicht finden wir uns doch noch einmal!”

„Wie wäre das möglich ohne jeden Anhalt? Ohne Wohnort, Vaterland, Namen?”

„Den letzteren sollen Sie haben — das übrige ist Sache Ihres Findertalentes!”

Sie entnahm eine Visitenkarte der Skizzenmappe und reichte sie ihm: „Aber erst morgen früh auf dem Dampfer lesen! Ihr Ehrenwort?”

„Mein Ehrenwort!”

„Auf Wiedersehen!”

„Auf Wiedersehen!”

*           *           *

Und am nächsten Morgen las er die Karte, auf der nur eine Zeile stand: Adda von Berken.”

— — —